Die FDP klammert sich noch immer einseitig an marktradikalen Dogmen. Dabei könnte sie sich zu einer echten liberalen Partei weiterentwickeln.
Politik und Gesellschaft stehen vor einer Zeitenwende. Der Turbokapitalismus ist an der Wallstreet untergegangen. Das marktradikale Denken hat nicht nur geirrt. Er ist für die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 verantwortlich, deren Folgen zunehmend für den Bürger spürbar werden. Die FDP war zusammen mit der CDU der Hauptvertreter jenes entfesselten Kapitalismus. Seit dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1983 hatten sich die Liberalen zu einer ideologischen und dogmatischen Partei entwickelt, bei der die gestalterische Politik auf Steuersenkungen und Staatsabbau reduziert wird. Im November 2004 forderte die FDP die Abschaffung der paritätischen Mitbestimmung zur Konzernmitbestimmung. Zwei Jahre später wollte sie die Abschaffung des Artikels 15 des Grundgesetzes (GG), in dem die Möglichkeit von Sozialisierungen sowie Vergesellschaftungen als Mittel der Wirtschaftspolitik festgehalten wird. Noch der Parteitag im Sommer 2008 – damals in Aufschwungs- und Wachstumszeiten – war völlig von einem Wettlauf zwischen den FDP-Politikern Solms, Pinkwart und Brüderle um die radikalste Steuervariante geprägt: Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 35 oder 30 Prozent oder doch gleich Flat Tax?
Grundfehler des Marktradikalismus geleugnet
Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise klammert sich die FDP weiter an marktradikalen Dogmen. Trotzig will sie ihre Pläne einer umfassenden Steuerreform insbesondere für Besserverdienende weiterverfolgen, die schon in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums sozial ungerecht waren. Sie will die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen und Arbeitnehmerrechte abbauen. Sie sagt in Verdrehung der Tatsachen, Verursacher der Finanzkrise seien nicht die Manager und Banker, sondern es handele sich um Staatsversagen. Der Grundfehler des Marktradikalismus wird geleugnet: die Reduktion des Wirtschaftens auf zu hohe Renditen, die Orientierung am Shareholder Value und die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Will die FDP jenseits des christdemokratischen Wirtschaftsflügels koalitionsfähig werden, muss sie ihre ideologiegesteuerte Marktgläubigkeit reflektieren. Denn es geht auch anders: Bei den Themen Bildung, aber auch bei Abrüstung und Bürgerrechten sind die Liberalen der SPD näher als der CDU. Die FDP ist gegen den Bundeswehr-Einsatz im Innern und fordert in der Integrationspolitik ein offenes Zuwanderungsrecht, demokratische Rechte und erleichterte Einbürgerungsregeln. Zumindest in der Bildungspolitik will sie soziale Ungleichheit beseitigen. Greift sie diese Themen auf und entwickelt sie weiter, könnten neue Bündnisoptionen möglich werden. Den jüngsten Praxistest im hessischen Koalitionsvertrag hat sie aber in den Sand gesetzt.